Stillleben im Wandel der Kunst
- Juni bis 4. November 2018
„Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.“
Die heutige Gesellschaft hat sich von diesen altbekannten Versen des Romantikers Joseph von Eichendorff offenbar so weit entfernt, wie man es sich nur denken kann – nichts scheint mehr zu singen, zumindest ist es nicht mehr hörbar, denn die Welt versinkt im Lärm von Verkehr, Technik und Unterhaltungsindustrie.
Doch wie ist es dann zu verstehen, dass bis heute Früchte, Krüge, Interieurs und Blumen als künstlerisches Motiv zu finden sind? Wie kann es sein, dass noch immer von jungen Künstlern Stillleben, Bilder „unbewegter Dinge”, französisch „natures mortes”, geschaffen werden, wie sie bereits im 16. Jahrhundert die Räume reicher Kaufleute und Adliger in Europa schmückten?
Vielleicht hängt es damit zusammen, dass die Dinge immer wieder neu erscheinen, dass jeder Mensch für sich genommen sie immer wieder individuell und neu erlebt – eine Individualität, die sich gerade in der Kunst spiegelt. Und natürlich mit der Tatsache, dass es nicht nur die Wahrnehmung, die persönliche Empfindung des Einzelnen ist, die den Gegenstand verändert, sondern auch der Lichteinfall, die Atmosphäre, die Tageszeit, die Kürze des Augenblicks.
Aus dieser Faszination heraus erklärt sich nicht nur der gesamte Impressionismus, sondern auch Cézannes unermüdlicher, immer wieder Bild werdender Blick auf den Mont St. Victoire ebenso wie Peter Drehers Serien von Trinkgläsern. Kaum ein anderes Genre jenseits der Porträtkunst geht dem menschlichen Dasein stärker auf den Grund als das Stillleben, denn in den Gegenständen, die ihn umgeben, in ihrer Vergänglichkeit, Schönheit, manchmal auch Lächerlichkeit und Armseligkeit spiegelt sich der Mensch.
Sicherlich hat sich der Symbolgehalt der Stilllebengewandelt – heute sind Darstellungen von Fleisch nicht mehr als Hinweis auf die Versuchung des Fleisches im christlichen Sinne zu verstehen, wie das in der frühen Neuzeit der Fall war. Andererseits ist der Reiz des Morbiden noch immer gegeben, wie beispielsweise die 2013 entstandene Arbeit „Funk to funky” von Marianne Gartner erkennen lässt – das Skelett als Vanitas-Motiv par excellence, der Nachtfalter steht für Metamorphose, aber auch Vergänglichkeit mit einem Hinweis auf das Selbstzerstörerisch-Unheimliche dieser nächtlichen Kreaturen. Geblieben ist auch die Vergänglichkeitssymbolik der Blumendarstellungen – die Faszination ihrer zarten Schönheit, der unweigerlich Welken und Fäulnis folgen. Den Symbolgehalt, den Stillleben auch heute durchaus noch an den Tag legen, zeigt das Objekt von Bertozzi e Casoni sehr augenfällig: Hier blühen Narzissen aus einer verseuchten Erde heraus, die mit Abfall gespickt ist.
Schon Erhart Kästner konstatierte 1973 den „Generalstreik der Dinge”, die maßlos ausgeforscht und ausgebeutet werden, und stellte fest, dass „die Kunst, die man modern nennt” ihre Not erkannt hat. Ihm zufolge hat unter anderem der Dadaismus ebenso wie Duchamp mit seinen Readymades versucht, den Dingen in ihrer bedrohten, ausgehöhlten Existenz ihre Würde zurückzugeben und sie wieder in ihr Recht zu setzen. Ein Ringen, das bis heute fortdauert, wie die Ausstellung mit über 100 Arbeiten verschiedenster Stilrichtungen und Künstler zeigt: Mit einem kleinen Blick zurück auf die Stillleben der frühen Neuzeit, richtet sich das Augenmerk auf die Kunst des 20. Jahrhunderts bis heute. Die Neue Sachlichkeit und der Kubismus mit Georges Braque sind ebenso vertreten wie Emil Cimiotti und Jean Fautrier, die man sonst als Künstler des Informels kennt. CoBrA-Künstler wie Carl Henning Pedersen haben das Sujet aufgegriffen, wie auch später Markus Lüpertz, Dieter Krieg, Johannes Grützke und Peter Dreher, nicht zu vergessen die (Neue) Leipziger Schule. Dabei ist die Vielzahl der Themen derjenigen der Stilformen durchaus ebenbürtig: Blumen, Früchte, Totenschädel, Gefäße, vertraute und überraschende Zusammenstellungen machen die Ausstellung zu einem spannenden Parcours durch das weite Feld der Stillleben. Katrin Hesse